Fachwissen oder Persönlichkeit: Was zählt mehr?
Veröffentlicht am 03.02.2025
Eine zukunftsgerichtete Rekrutierung stellt den Menschen in den Mittelpunkt – nicht den Lebenslauf. Wissen und Fachkenntnisse kann man sich aneignen. Charakter und Werte hingegen bringen wir mit. Eine erfolgreiche Personalgewinnung stellt Werte und Soft Skills in den Fokus. Dies minimiert potenzielle Konflikte, steigert die Produktivität und fördert die Mitarbeiterbindung.
von Jannina Zanner, Weiterbildungsverantwortliche bei der Somedia AG, Trainerin und Coach für Führungskräfte und leidenschaftliche Quereinsteigerin im Bereich Recruiting
Mein erstes Online-Vorstellungsgespräch. Ich hatte mich gut vorbereitet. Dachte ich zumindest. Was ich tatsächlich vergessen hatte, war meinen Lebenslauf auszudrucken. Ich hatte es nicht für wichtig erachtet. Doch der Fokus der Personalleiterin lag einzig und allein auf meinem Werdegang. Schritt für Schritt arbeiteten wir uns zurück. Was waren meine Aufgaben im Detail vor fünf Jahren, vor 10 Jahren? Wie gross die Teams gewesen seien, die ich geführt habe? Ich erinnere mich noch genau, wie ich gedanklich in ehemalige Büros zurückreisen musste, um die Teammitglieder durchzuzählen – dabei handelte es sich bei der Stelle noch nicht einmal um eine Führungsposition.
Ich hatte mich damals nicht getraut die Gesprächsführung zu übernehmen. Viel lieber hätte ich über die Position gesprochen. Über die Herausforderungen, die damit verbunden sind. Über die Kompetenzen, die ich brauche, um erfolgreich zu sein. Stattdessen wurde ich auf meine Vergangenheit reduziert – auf Daten und Fakten, die im Grunde nichts darüber aussagen, wer ich bin, was mich als Mitarbeitende und Kollegin ausmacht und was ich wirklich für Kompetenzen mitbringe.
Wissen kann man sich aneignen. Charakter hat man.
Dieses Erlebnis hat mich zum Nachdenken gebracht und zeigt ein zentrales Problem vieler Rekrutierungsprozesse: Sie bleiben an der Oberfläche. Lebensläufe werden durchforstet mit Checklisten. Hat der Bewerber, die Bewerberin die richtige Ausbildung? Passt die Berufserfahrung ins Raster? Und wenn kein Häkchen gemacht werden kann, wird die Bewerbung oft gleich aussortiert. Doch die eigentlichen Fragen bleiben dann unbeantwortet: Wer ist der Mensch, der sich hier vorstellt?
In manchen Berufen ist spezialisiertes Fachwissen unabdingbar – etwa bei Ärztinnen und Ärzten oder Pilotinnen und Piloten, deren Entscheidungen über Leben und Tod bestimmen können. Hier sind spezialisierte Fachkräfte gefragt, die nicht nur tiefgreifendes Wissen besitzen, sondern auch die Erfahrung und das Selbstvertrauen, dieses in kritischen Situationen anzuwenden. Doch während Spezialwissen in solchen Berufen matchentscheidend ist, gilt dies – wenn wir ganz ehrlich sind – für die Mehrheit der Jobs nicht.
Für mich machen daher oft weniger die Hard Facts als die Soft Skills (wie z.B. Flexibilität, Soziale Kompetenz, Kritikfähigkeit und Lernbereitschaft) den entscheidenden Unterschied, wenn es um langfristigen Erfolg und Zusammenarbeit geht – frei nach dem Motto: «Hire for attitude, train for skills».
Als Führungskraft sollte ich mich fragen: Kann ich mit dieser Person auf Augenhöhe kommunizieren? Passt der Bewerber oder die Bewerberin zu den Dynamiken meines Teams? Verstehen wir uns – nicht nur fachlich, sondern auch menschlich? Mit «verstehen» meine ich nicht Sympathie – sondern ähnliche Vorstellung der Zusammenarbeit und der Kommunikation, harmonieren unsere Werte miteinander und stimmt die Chemie, die entstehen muss, um erfolgreich zusammenzuarbeiten. Diese Fähigkeiten sind nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich. Deshalb erfordert eine moderne Rekrutierung echtes Interesse an dem Gegenüber und die Bereitschaft, zuzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen – und vor allem die richtigen Fragen zu stellen und sich schon vor der Ausschreibung klar darüber zu sein, welche Kompetenzen die Stelle wirklich benötigt.
Ein Plädoyer für ein Umdenken.
Die Zukunft der Rekrutierung erfordert meines Erachtens ein radikales Umdenken: Weg von starren Anforderungsprofilen und Weg vom bloßen Abhaken. Dafür Hin zu einer werteorientierten Auswahl und Hin zu Gesprächen, die echte Verbindungen schaffen.
Eine Bewerbung ist keine Vergangenheitsschau. Sie ist eine Investition in die Zukunft. Ein wertebasiertes Recruiting spricht die Persönlichkeit und die Emotionen potenzieller Bewerbenden an – und hebt sich damit von der Masse ab. Es zeigt dem Gegenüber: «Hier zählt, wer du bist – und nicht nur, was du kannst.» Und das schafft Beziehung. Und Beziehung schafft Vertrauen. Und das begeistert.
Bild: zVg